Samstag, 11. Juni 2016

Rück/Vor-Aus-Blick (Lost & Found)

Ich schrieb einem Freund, wir gingen ins Kino, ob er nicht mitkommen wolle und bekam erst mal keine Antwort. Als wir gemütlich in den Kinosesseln saßen, in Pullis und Fleecedecken gekuschelt, weil die Klimaanlage immer so übertrieben kalt ist, gerade als die ersten Sekunden des Vorspanns anfingen, stand Miguel auf einmal vor uns und begrüßte uns lachend: Der Kartenkontrolleur ist ein Freund von ihm und er hatte mit einem Foto von uns gefragt, in welchen Film wir gegangen sind. "Tienes que creer en el creo".

Ein bisschen kopflos verwirrt kurz vor Ende und Anfang 

Seit über einer Schwangerschaftsperiode mischen wir uns jetzt schon unter die 3,4 Millionen Panameñus. In der Kleinstadt Santiago und den noch kleineren Dörfern, in denen wir arbeiten, kennt man uns. Man unternimmt schon gar keinen Versuch mehr, Vicki und mir Fleisch zu servieren, weiß, dass Luca ein Mädchen ist und der Name ohne "s" geschrieben wird. Auch wir kennen die Welt um uns herum. Den Geruch von Reis, das Prasseln des Regens auf Wellblechdach, bei dem man das eigene Wort nicht mehr versteht, das Geschrei von Truthähnen und Hühnern (die, die mit uns geskypt haben, können wahrscheinlich selbst schon ein Lied davon krähen). Wir kennen das zahnlose Lächeln vieler Campesinos, haben viel Gastfreundschaft erlebt, viel Neugierde und auch Zurückhaltung uns gegenüber, vor allem der Sprache wegen. Wir wurden oft angehupt, uns wurde unzählige male hinterhergepfiffen und wir haben Freunde gefunden, oder sie uns. Wir haben Bekanntschaft mit den Postbeamten gemacht, die nicht nur wie durch einen Fluch in Zeitlupe zu arbeiten scheinen, sondern auch noch eine gewisse Aura wie Sirius Snape ausstrahlen. Wir kennen den wunderschönen Ausblick über die Berge und über das Meer bis zum Horizont und auch den traurigen Anblick von Müllteppichen neben der Straße und in den Dörfern, von brandgerodeten Feldern. Wir haben zahllose Plumsklos benutzt, mit und ohne Lüftungsrohr, Klobrille und -papier, mit und ohne Wasser zum Händewaschen danach, mit und ohne Tür und Schloss und mit und ohne der Gesellschaft von Mückenschwärmen, Kakerlaken oder Kröten. Wir haben gelebt.

Señora beim Reisschlagen (Wir haben angefangen und sie hat uns nach ca. 10 Minuten Abgelöst weil wir nicht mehr konnten - ungefähr mit der 5-fachen Kraft und 10-fachen Frequenz der Schläge, danach folgte der feste Vorsatz, dass wir unseren Reis in zukunft IMMER aufessen werden)

Die Schlafstörer
Latrine ohne Dach in Pueblo Nuevo

Besuch im Schlafzimmer 
Das gleiche Leben wie zuvor, mit Hoch- und Tiefpunkten und trotzdem ein ganz anderes. Ein Leben mit anderen Maßstäben, in Lehmhütten auf Holzpritschen, in Hängematten, ein Leben ohne Jacken, manchmal ohne Duschmöglichkeit über mehrere Tage, außer im eigenen Schweiß. Unbequem und unkomfortabel ist dieses Leben hier, wenn wir mit dem Rucksack auf den Schultern durch die Berge wandern und das bei sengender Hitze, bei tropisch-schwerer Luft und senkrecht stehender Sonne. Oder wenn wir zwei Stunden vom Dorf zurück zum Auto stolpern weil wir im strömenden Regen bei jedem zweiten Schritt im Matsch stecken bleiben. Aber gleichzeitig ist es das bequemste und komfortabelste Jahr meines Lebens. Durch so viel Zeit, die mir geschenkt wird, jeden Tag, durch so viele Freiheiten. Durch all die Zukunftspläne, Ziele, Verpflichtungen, Ideale, Verantwortlichkeiten und Aufgaben, die ich ein paar Monate zu Hause pausieren lassen konnte.

Dieses Foto wurde nach 4 Stunden Matschweg aufgenommen, nach weiteren 2  Stunden waren die Schuhe wieder Sauber, wir standen hüfttief im Fluss.
Jetzt also liege ich hier auf meiner Luftmatratze auf der Pritsche, im Radio läuft Tipico, von dem man wegen dem Regen aber nur wenig hört. Die Familie Valdes, bei der Vicki und ich diese Woche in Mata Redonda das letzte mal hausen, hat ein Solarpanel, daher erhellt neben meiner super-sexy Stirnlampe eine kalte LED-Leuchte Zimmer und umgebende Spinnennetze. Beide locken allerlei Insekten an. Es gibt tatsächlich Dinge, die ich nicht vermissen werde. Auf der anderen Seite aber, gibt es eine lange Liste dessen, was mir wirklich stark fehlen wird: die spontanen Ausflüge zum Strand, die Zufriedenheit, die viele der Dorfbewohner mit denen wir arbeiten, trotz der teils sehr großen materiellen Armut, ausstrahlen, Mais-Tortillas und Limonengrastee mit einer verbotenen Menge an Zucker. Die kleinen grünen Papageien die als Haustiere gehalten werden, draußen unter Sternenhimmel schlafen, den Eindruck, dass hier noch gearbeitet wird um zu Leben und nicht andersherum und allem voran natürlich einige Menschen. Vicki, die meine kleine Schwester geworden ist, Lolo und Luca, mit denen ich zusammengelebt, -gelacht und -gearbeitet habe, viele Freunde, die uns mit Küsschen begrüßt, das Land gezeigt, das Surfen beigebracht, über Landespolitik und -klatsch informierten und einfach mit uns Spaß hatten. CEPAS-Kollegen, die meinen gewohnten Organisations- und Planungswillen oft zur Verzweiflung trieben, die uns morgens um 6 aufstehen und dann doch zwei Stunden haben warten lassen, von denen wir gelernt und völlig durchnässt und frierend nach einer Wanderung aufgesammelt wurden, um erst mal zur besten Bäckerei der Provinz zu fahren und Chicheme (Mais-Reis-Zimt-Milch-Getränk) zu trinken.

"BAILAN BALAN PUE, AUUUUUEEEE! AUUUUIII!" (Konzert für uns in Cerro Viejo, mit Geige, Tamburin und Ratsche)

Tropenhaustiere

Mata Redonda: Bau eines "Nives As" im Illuminatenstyle
Zitronengrasernte
Chicheme - in der Mittagspause, zwischendurch, nach der Arbeit und als Nachtisch... Chicheme - for live!
"Er selbst wolle auch reisen, sagte Humboldt. Forster nickte. Mancher wolle das. Und jeder bereue es später. Warum? Weil man nie zurückkommen könne." (Daniel Kohlmann, Die Vermessung der Welt. S. 28f). Es stimmt, dass ich nicht als die zurückkommen kann, die ich war. Vielleicht nie ganz zurückkommen kann, weil ich die Tür zu einem neuen zu Hause in Mittelamerika unwiderruflich geöffnet habe. Aber bereuen, werde ich das sicher nicht. Manches an der deutschen Kultur und Politik wäre vielleicht einfacher zu akzeptieren, würde ich keine Alternative kennen, aber ich habe in den letzten Monaten mit ganzem Herzen erlebt und gelernt und werde ein bisschen panamaischer Kultur mit nach Hause nehmen, die bunte Suppe der Weltbevölkerung ein winziges Stückchen weiter umrühren.


Arbeitsweg (Ausschnitt einer Rüttel-Chiva-Fahrt auf der Panamericana)

Mein Studentenleben wird aber auf jeden Fall ein paar panamaische Züge zeigen und davon werde ich nur profitieren.

Eure Andrea